Vergiftet oder arbeitslos?

Beitrag in der ZDF-Sendereihe „betrifft: fernsehen”
Gesendet am 21.7.1982 um 22.15 Uhr.
Video-Vertrieb durch ATLAS-Film

Mein dritter ZDF-Film war ein riskantes Experiment. Der Sender hatte mir das Thema „Chemie und Landwirtschaft“ vorgegeben. Ich sollte eine neue Medienform entwickeln, um den komplizierten Sachverhalt für das TV-Publikum effektiv zu vermitteln.

Am Tag der Ausstrahlung erschien folgender Presse-Kommentar:

„Was die chemische Industrie mit unserer Landwirtschaft macht, ist ein Verbrechen”. Ist der Satz möglich im Programm einer öffentlich-rechtlichen Anstalt? Möglich ist er! Zu hören heute Abend im ZDF. Der Satz stammt von Bernward Wember, und außer ihm wäre wohl niemandem gelungen, ihn im Fernsehen unterzubringen. Wember, Professor für audio-visuelle Kommunikation, hat seinen außerordentlichen Ruf durch nur zwei Filme begründet, beide im ZDF gesendet. „Wieso denn ideologisch?” und „Wie informiert das Fernsehen?” …

Süddeutsche Zeitung

Tatort-Kommissare Gustl Bayrhammer und Eva Mattes

Der Vorwurf eines Verbrechens hat die Chemiekonzerne BASF, BAYER und HOECHST aufs Äußerste empört. Wie war es überhaupt möglich, dass ein so provokanter Satz alle juristischen Kontrollen im ZDF überwunden hat? Hat denn niemand das Risiko eines solchen Satzes bemerkt?

Die Frage wird beantwortet von der Spielfilm-Rahmenhandlung meines Films: In einem dramatischen Dialog streitet der ökologisch engagierte Vater heftig mit seiner erzkonservativen Tochter über das Risiko der Chemischen Keule in der Landwirtschaft.

Der Tatortkommissar Gustl Bayrhammer spielt den Vater, Eva Mattes die Tochter. Die beiden Stars konnten in einem Spielfilm jede noch so provozierende Zuspitzung rausbrüllen – das ist übliche Spielfilm-Dramaturgie. Für die ZDF-Juristen waren das also völlig normale Spielfilm-Elemente.

Nicht normal war, dass solche provokativen Spielfilmszenen in einem Informationsfilm über Chemie und Landwirtschaft vorkommen. Nicht normal war außerdem, dass weitere unkonventionelle Elemente zu einer ungewöhnlichen Kombination verbunden wurden:

Bewegte Bildsymbole

Statt grafischer Symbole wie im Irland-Modell werden Modelle von Maschinen animiert, die später in einer 9-Bild-Teilung kombiniert werden.

Die geräuschvollen Maschinen wurden eigens für den Film gebaut. Ein echter Vogel flattert im Modell des biologischen Gleichgewichts. Lebendige Würmer krabbeln im drehenden Modell des Boden-Kreislaufs.

Dokumentarische Szenen

Als Ergänzung zu den Modell-Maschinen werden dokumentarische Filmszenen gezeigt: In Obstplantagen wird Gift versprüht. Ein Flugzeug verteilt Schädlingsgifte. Obst-Überschüsse werden entsorgt. Die Tragödie des Seveso-Unfalls wird dokumentiert.

9-Bild-Teilung

Die Bildsymbole werden in einer 9-Bild-Teilung kombiniert zu einem bewegten Gesamtbild. Komplexität von Zusammenhängen wird erlebbar.

… Eine neue Mediensprache. Wembers erklärte Absicht ist, komplexe Sachverhalte sinnlich erfahrbar zu machen. Mit Hilfe der im Fernsehen üblichen Reportage-Bildsequenzen, die Realität als fotografierte Realität wiedergeben, ist das allein nicht zu vermitteln – getreu der Feststellung Bertold Brechts:

„Die Lage wird dadurch so kompliziert, dass weniger denn je eine einfache Wiedergabe der Realität etwas über die Realität aussagt. Eine Fotografie der Kruppwerke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht. Es ist also etwas aufzubauen, etwas Künstliches, Gestelltes.” 

Wember bedient sich bei seiner Realitätsvermittlung im Sinne Brechts verschiedener Stilformen, die in ihrer Montage und Wirkung auf den Zuschauer präzis kalkuliert sind. Die Bildsymbole, einzeln und in ihrem logischen Zusammenhang, prägen sich dem Zuschauer ein. Dialektisches Zusammenführen aller Faktoren, nicht isolierte Darstellung, lautet die Methode, mit der Wember den Erkenntnisprozess anschaulich werden lässt …

Frankfurter Rundschau

Ausschnitte aus dem Originalfilm „Vergiftet oder arbeitslos?“

… Ein glänzend gemachter, aber bewusst parteiischer Öko-Film. Ein Film, der den optischen Firlefanz üblicher TV-Features denunzieren und ganz schmucklose, strenge Sequenzen dagegensetzen will…Formal revolutionär, didaktisch brillant, rabiat einseitig in Mache und Tendenz. Ein erfrischendes öffentliches Ärgernis …

Der Spiegel

… Simple Bildeinfälle, die die intellektuelle Brillanz von Verkehrsschildern besaßen …

Kölner Stadt-Anzeiger

… Das Verdienst Wembers liegt darin, dass er in grenzenlosem Neuland zu experimentieren wagte: Faszinierende Möglichkeiten …

Tages-Anzeiger Zürich

… Pilotunternehmen an der Schallmauer. Was am Wemberschen Projekt beunruhigt: Das Fernsehen könnte womöglich Gefallen an seiner Bildsprache finden und uns in Zukunft die Welt am Beispiel einer Puppenstube erklären lässt. Komplexe Vorgänge kann man kaum in eine gradlinige logische Abfolge bringen, es sei denn, man will uns für dumm verkaufen …

Frankfurter Allgemeine Zeitung

… Wie Wember die einzelnen Stilmittel arrangiert zu einem ausgeklügelten System, wie er den Kreislauf der Natur, der Naturzerstörung und der Abhängigkeiten sinnlich plausibel macht, in dieser Komposition von realen und abstrakten Bildzeichen liegt die Suggestivität dieser Bildgrammatik. Die formale Brillanz von Wembers Bildtraktat steht außer Frage …

Frankfurter Rundschau

… Brecht’sches Lehrtheater übertragen aufs Fernsehen. Wembers Verfahren stiftet Sinn und Zusammenhänge, wo sie gewöhnlich vernebelt werden …

Fachzeitschrift Medium

… Es ist nicht zu begreifen, wie Wember auf Stammtischniveau seinen mediendidaktischen Ansatz pervertieren konnte. Die Droge Fernsehen muss ihn vergiftet haben …

Augsburger Allgemeine