Der Medien-GAU

Der Streit um den Film „Vergiftet oder arbeitslos?”

Zwiespalt

Um meinen Film „Vergiftet oder arbeitslos?“ wurde im ZDF vor der Ausstrahlung kontrovers diskutiert.
Einige Redakteure waren von dem Film begeistert und schlugen vor, der Film solle auf den Mainzer Tagen der Fernsehkritik uraufgeführt werden. Es gab auch die Empfehlung, den Film beim Wettbewerb des INPUT-Symposions in Venedig einzureichen, weil dort nur ein außergewöhnlicher Film Chancen für eine Preisverleihung habe.

Andere Verantwortliche hatten große Sorge, dass die Chemiekonzerne gegen den chemiekritischen Film vorgehen könnten. Deshalb wurde von der Einreichung des Films in Venedig abgeraten. Auch die Uraufführung bei den Mainzer Tagen wurde verworfen. Die Begründung war eindeutig: Die chemische Industrie darf den Film vor der Ausstrahlung nicht sehen, weil sie die Sendung verhindern könnte.

Dieser Zwiespalt von Begeisterung über die neue Form und Sorge vor Eingriffen der Chemiekonzerne bestimmte alle ZDF-internen Entscheidungen.

Wirkungstest

Intendant Dieter Stolte wollte den Film senden – trotz eventueller Risiken. Um möglichen Problemen vorzubeugen, sollte der Film abgesichert werden. Deshalb hat der Intendant den Film von einem renommierten Forschungsinstitut testen lassen. Dieser aufwändige Wirkungstest war für einen einzelnen Film sehr ungewöhnlich, denn normalerweise wurden nur TV-Serien getestet. Das Testpublikum gab folgende Bewertung des Films: 52% gut, 35% mittelmäßig, 13% schlecht.

Mutige Entscheidung

Trotz aller Geheimhaltung hatten die Chemie-Konzerne Informationen über einen kritischen ZDF-Film bekommen. Das ZDF bekam ebenfalls deutliche Hinweise, dass die chemische Industrie massive Angriffe gegen den Film vorbereitet.

In dieser Situation hätte der Intendant entscheiden können, den Film nicht zu senden, weil das Risiko für das ZDF zu hoch sei. Aber er entschied, den Film zu senden, weil er an den Erfolg meiner Arbeit geglaubt hat. Diese mutige Entscheidung des Intendanten Dieter Stolte habe ich bewundert. Deshalb bin ich auf seine Vorschläge zur Reduzierung der juristischen Risiken eingegangen.

Entschärfung des Films

Einvernehmlich haben der Intendant und ich eine Doppel-Strategie vereinbart.

Der Film wird in einer 60-minütigen Kurzfassung präsentiert.
Der Moderator kommentiert die Kapitel des Films und weist das Publikum auf die Langfassung hin.

Die ungekürzte Fassung wird von ATLAS-Film als Videokassette vertrieben.
Im Anschluss an die Präsentation wird der Film von einer prominenten Studiorunde kontrovers diskutiert.

Wir waren überzeugt, dass der Film durch die Kürzungen und durch die kritische Diskussion abgesichert sei gegen Angriffe der chemischen Industrie. Leider haben wir uns getäuscht.

Der GAU

BASF, BAYER und HOECHST waren empört und haben ultimativ vom ZDF verlangt, dass die Verbreitung der Langfassung des Films als Videokassette verboten wird. Sollte das ZDF der Forderung nicht nachkommen, drohten die Konzerne mit einer Klage wegen Kreditschädigung. Kredite für die Großindustrie bewegen sich im Multi-Millionen-Bereich.

Eine Anfrage im Deutschen Bundestag von Abgeordneten der CDU sollte den Druck erhöhen. Der Innenminister wurde gefragt, weshalb er einen so skandalösen Film freigeben könne an die Bundeszentrale für politische Bildung.

Headlines aus Zeitungen und Fachzeitschriften

Nach turbulenten Krisensitzungen im ZDF wurde die Forderung der Konzerne akzeptiert. Die Verbreitung der Videokassette mit dem ungekürzten Film wurde verboten. Ich war wütend und enttäuscht. Die Resonanz der Presse war gewaltig.

Einsichten

Mit zeitlicher Distanz habe ich meine Beurteilung des Skandals korrigiert. Ein Prozess der chemischen Industrie gegen den öffentlich-rechtlichen Sender wegen Kreditschädigung wäre enorm riskant gewesen, weil das ZDF unter anderem den brisanten Satz genehmigt hatte: „Was die chemische Industrie mit der Landwirtschaft macht, ist ein Verbrechen.“

Eine eventuelle Strafe in Multi-Millionen-Höhe wäre für das ZDF der Super-GAU gewesen und hätte aus Perspektive der Aufsichtsgremien fatale Folgen haben können. Der ZDF-Staatsvertrag verpflichtet den Intendanten, seinen Sender vor Schaden zu bewahren. Im Sinne einer realistischen Güterabwägung gab es wegen des enormen Risikos gar keine andere Wahl: Der Intendant musste die Videokassette verbieten.

Ungerecht

Als Intendant Dieter Stolte die Forderung der Chemie-Konzerne erfüllte und die Videokassette meines Films verbot, wurde er in den Headlines der Presse nicht nur als Umfaller beschimpft. Das war sachlich falsch. Angesichts der extremen finanziellen Bedrohung durch die Konzerne war die Maßnahme unvermeidbar, um enormen Schaden vom ZDF abzuwenden.

Der Intendant hatte sich für meinen Film sehr engagiert und mutige Regelungen für die Ausstrahlung des Films getroffen. Deshalb war es ungerecht, ihn als Feigling zu diffamieren.

Ohne die Risikobereitschaft des Intendanten hätte mein Film nie die Öffentlichkeit erreicht.
Ohne die Ausstrahlung im ZDF hätte mein Film nie den Deutschen Kritikerpreis bekommen.

Deshalb kann der Preis auch interpretiert werde als Anerkennung für das ZDF, weil es einen preiswürdigen Film produziert und unter riskanten Bedingungen gesendet hat.